Informationsgesellschaft (Information Society)
[Übersetzung der Zeitschrift TYÖTERVEISET vom 30. Juni 1996]
Das Thema "Informationsgesellschaft" ist - wenn auch unter anderen Bezeichnungen - bereits seit drei oder vier Jahrzehnten Gegenstand der öffentlichen Debatte. Aber erst mit der zunehmenden Verbreitung von Personalcomputern und Informationsnetzen Mitte der 80er Jahre nahm die Diskussion konkrete Züge an. In den drei großen Wirtschaftsräumen - Nordamerika, Japan und Europäische Union - laufen umfassende Programme zur Förderung der FuE im Bereich der Informationstechnik. Wie sich gezeigt hat, sind aber rein technologisch ausgerichtete Programme dieser Art nicht so ergiebig wie erwartet. Vor allem in West- und Südeuropa stehen die Bevölkerung und die Arbeitnehmer der Informationsgesellschaft wegen der damit verbundenen Gefahr des Arbeitsplatzabbaus eher skeptisch gegenüber. Die Europäische Kommission setzte daher im April 1995 eine hochrangige Sachverständigengruppe für die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte der Informationsgesellschaft ein und beauftragte sie, der Kommission bis zum 31. Oktober 1996 einen Bericht vorzulegen, der die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Informationsgesellschaft zum Inhalt hat und ein breites Spektrum von Problemkreisen behandeln sollte, darunter Beschäftigung, Arbeitsorganisation, Arbeitsmarkt, allgemeine und berufliche Bildung, Gesundheit, sozialer und regionaler Zusammenhalt, Kultur und Medien sowie die Auswirkungen der Informationsgesellschaft auf die Demokratie. Die Europäische Union übernimmt hier eine Vorreiterrolle, denn neben technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten werden auch die sozialen Folgen der Informationstechnik berücksichtigt.
Die Folgen der Informationsgesellschaft für den Gesundheitsschutz und die Sicherheit am Arbeitsplatz sind überwiegend positiv zu bewerten. Die Arbeitsaufgaben können so gestaltet werden, daß damit eine Verminderung der körperlichen Belastung und der Risiken herkömmlicher Art verbunden ist. Allerdings haben sich die in die neuen Technologien gesetzten Erwartungen nicht vollständig erfüllt. Es ergibt sich folgendes Paradox: Zum einen läßt sich die Arbeit schneller bewerkstelligen, und sie ist stellenweise auch leichter geworden. Zum anderen aber vertreten über 50 % der finnischen Arbeitnehmer aufgrund der immer höheren Effizienz der Rechentechnik, der Datenorganisation, der Grafik- und Textverarbeitung die Ansicht, daß sie wegen ständiger Überbeanspruchung nicht in der Lage sind, ihre Aufgaben ordnungsgemäß zu erledigen. Damit wird ein Hilfsmittel, das mit dem Ziel der Arbeitserleichterung geschaffen wurde, zunehmend selbst zum Auslöser von Streß, namentlich in psychologischer und ergonomischer Hinsicht. Für die Arbeitnehmer, die in informationsintensiven Bereichen tätig sind, ergeben sich auch Probleme aus der Informationsflut und der Vielzahl irrelevanter Informationen. Zudem sind bestimmte Personengruppen wie Behinderte und Senioren oft gar nicht imstande, die Möglichkeiten der Informationstechnik zu nutzen. Auch hat nicht jedermann Zugang zu den neuen Technologien. Manche Sachverständige sprechen von einer neuen Zweiteilung der Gesellschaft in Nutzer und Nichtnutzer. Daraus erklären sich die Befürchtungen und negativen Einstellungen zur Informationstechnik, wie sie insbesondere in Westeuropa anzutreffen sind.
Die Hochrangige Sachverständigengruppe der Europäischen Kommission hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, für einen breiten Zugang zur europäischen Informationsgesellschaft - zur Technologie, zu den Nutzeffekten und zum Leistungsangebot - zu sorgen ("Informationsgesellschaft für uns alle"). Nach Ansicht der Sachverständigengruppe bietet der rasante technologische Fortschritt nicht unbedingt die Gewähr dafür, daß die Entwicklung den Menschen durch Berücksichtigung ihrer realen Bedürfnisse zum Nutzen gereicht, d. h. Angebot und Nachfrage werden nicht automatisch miteinander in Einklang gebracht. Bei der Entwicklung neuer Technologien müssen also unbedingt die Belange des Endverbrauchers Beachtung finden. Wie einer unserer namhaftesten Philosophen, Prof. Ilkka Niiniluoto, zum Ausdruck brachte, bedeutet die große Zahl der Mobiltelefone nicht zwangsläufig, daß sie auch sinnvoll genutzt werden. Unter dem Blickwinkel der Ausgewogenheit gilt es, mehr Alternativen für die Entfaltung des einzelnen und für die Gestaltung der Arbeit anzubieten, damit jeder von uns die Arbeitsverfahren, Hilfsmittel, Freizeitangebote und Dienstleistungen vorfindet, die dem jeweiligen Alter, Entwicklungsstadium, Arbeitsinhalt und Lebensabschnitt entsprechen. All jene, die an der Entwicklung und Anwendung beteiligt sind, sehen sich vor die Herausforderung gestellt, unser Berufsleben und unseren Alltag mit Hilfe der Technik zu erleichtern, nicht aber die Hektik und Informationsflut noch zu verschlimmern oder unsere Aufmerksamkeit und Zeit mit irrelevanten, überflüssigen und unproduktiven Tätigkeiten in Beschlag zu nehmen.
Die Informationsgesellschaft wird sich nicht auf eine für die Produktionsziele, die Rentabilität der Investitionen sowie die Lebensqualität der Arbeitnehmer und Kunden zuträgliche Art und Weise gestalten lassen, wenn an der konzeptionellen Arbeit ausschließlich Computerfachleute beteiligt sind, und dies gilt natürlich erst recht, wenn sich nur eine kleine Elite dieser Technik zu bedienen vermag. Die Herausbildung einer wirklichen Informationsgesellschaft setzt voraus, daß weite Teile der Bevölkerung die neuen Technologien und Leistungen aktiv in Anspruch nehmen. Folglich sollte die Nutzbarkeit des Leistungsangebotes mit im Blickpunkt stehen. Die Anwender müssen selbst feststellen, daß die von der Technik bewirkten Veränderungen für sie selbst und die gesamte Gesellschaft von Vorteil sind. Als Wissenschaftler, Sachverständige und Entwicklungsfachleute haben wir auf dem Weg zu einer wirklichen Informationsgesellschaft noch große Bewährungsproben zu bestehen.
Uns eröffnet sich eine einzigartige Chance zur Entwicklung neuer Arbeitsinhalte, zur Förderung des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz und zur Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen. Eine Gesellschaft, die jetzt die richtigen Weichenstellungen vornimmt, kann unmittelbar Kurs auf eine "weise" Gesellschaft nehmen, ohne zunächst die Phase einer rein marktwirtschaftlich orientierten Informationsgesellschaft durchlaufen zu müssen. In einer in diesem Sinn "weisen" Gesellschaft finden die Grundrechte, das Sicherheitsbedürfnis und die Lebensqualität aller Bürger bei der konzeptionellen Gestaltung von Erwerbstätigkeit und Freizeit gebührende Berücksichtigung. Dabei vollzieht sich die Entwicklung größtenteils durch ihr eigenes Handeln. Dies bietet zugleich die Gewähr, daß die positiven Ergebnisse der Anwendung neuer Technologien sowie die damit geschaffenen Möglichkeiten im Sinne der Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und sozialen Verantwortung zum Tragen kommen.
Bibliografische Angaben
Titel: Informationsgesellschaft (Information Society). [Übersetzung der Zeitschrift TYÖTERVEISET vom 30. Juni 1996]
1. Auflage.
Bremerhaven:
Wirtschaftsverlag NW Verlag für neue Wissenschaft GmbH, 1997.
(Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Übersetzung
, Ü 8)
ISBN: 3-89429-866-9, Seiten: 68, Papier
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