Gesundheitsgefährdung bei der industriellen Verarbeitung von Styrol
Querschnittsuntersuchung zu Gesundheitsrisiken durch Styrol (F 5047) / Früherfassung neurotoxischer Wirkungen des Styrols (F 5108)
Mit zwei unterschiedlichen Herangehensweisen der klinisch-epidemiologischen Forschung werden am Beispiel von Styrol die gleichermaßen bedeutsamen Möglichkeiten für neue Erkenntnisse aufgezeigt.
Zunächst werden die Ergebnisse einer epidemiologischen Studie über styrolbelastete Betriebe mit dem Schwerpunkt chronische Gesundheitsstörungen dargestellt. Des Weiteren wird über eine klinische Untersuchung berichtet, die vorrangig auf die Früherkennung von Effekten am zentralen und peripheren Nervensystem bei Beschäftigten in einem solchen Betrieb ausgerichtet war.
Querschnittsuntersuchung zu Gesundheitsrisiken durch Styrol (F 5047)
Mit einer epidemiologischen Studie wurde das Gesundheitsrisiko für Beschäftigte in styrolverarbeitenden Betrieben im Vergleich zu Nichtexponierten auf der Basis eines Datenbankenvergleiches (Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, stationäre Behandlungsfälle, Todesursachenstatistik der DDR) untersucht. Die Exponierten- und die regionale beschäftigte Kontrollgruppe bestand aus je 1926 Männern und 430 Frauen. Die Styrolexponierten waren zum überwiegenden Teil Beschäftigte mit den Tätigkeiten "Be- und Verarbeiten von Kunststoffen" sowie "Bau- und Baumontagearbeiten". 15 % der Männer und 18 % der Frauen kamen aus anderen Bereichen (u.a. Beschichten von Metallen, Herstellen von Kunststoffen, Folien, Fußbodenbelägen, Lacken, Farben u.ä.). Messergebnisse zur personenbezogenen Belastungssituation gegenüber Styrol standen für diese Studie nicht zur Verfügung.
Die Untersuchungen ergaben für styrolexponierte Männer im Kontrollgruppen-Vergleich kein erhöhtes Krebsrisiko (ICD-9: 140.0-208.9; OR=0.57, 95 %-CI=0.28-1.17; adjustiert nach Alter und Rauchen) und auch spezielle Krebserkrankungen traten nicht gehäuft auf. Exponierte Männer zeigten gegenüber Nichtexponierten ein signifikant erhöhtes Erkrankungsrisiko an Hypertonie (ICD-9:401.0-405.0; OR=1.42, 95 %-CI=1.13-1.79; adjustiert nach Alter, Rauchen, Schichtarbeit und BMI) und Diabetes mellitus (ICD-9:250.0-250.9; OR=2.15, 95 %-CI=1.20-3.87). An Arbeitsplätzen mit Glasfaserstaubbelastung und wahrscheinlich auch hoher Styrolexposition wurde eine Überschussmorbidität an Lebererkrankungen (ICD-9:570.0-573.9; OR=4.45, 95 %-CI=3.24-6.10; adjustiert nach Alter und Rauchen) sowie an chronischen obstruktiven Lungenkrankheiten (ICD-9:490.0-496.0; OR=2.15, 95 %-CI=1.09-4.25; adjustiert nach Alter und Rauchen) beobachtet. Die Kontaktdermatitis (ICD-9:692.0-692.9) war bei an- und ungelernten Männern mit Styrolexposition signifikant erhöht (OR=1.92; 95 %-CI=1.08-3.42).
Auch bei Frauen konnte analog zu den Männern ein signifikant erhöhtes Risiko für Lebererkrankungen (OR=9.04; 95 %-CI=1.87-46.4) beobachtet werden. Ebenfalls erhöht zeigte sich das Risiko an Kontaktdermatitis (OR=9.04; 95 %-CI=2.39-34.20) bei Frauen an Arbeitsplätzen mit Glasfaserstaubbelastung. Das Krebsrisiko (geringe Fallzahl), die Hypertonierate und chronische obstruktive Lungenkrankheiten waren bei exponierten Frauen im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht signifikant erhöht.
Die Ergebnisse der Studie sind kritisch zu bewerten, da Alkohol als wesentlicher Confounder bei der Bewertung der Lebererkrankungen nicht erfasst wurde. Mögliche Verzerrungen aufgrund spezieller Diagnostik und häufigerer Untersuchungsfrequenz bei Exponierten im Vergleich zu Nichtexponierten sind nicht auszuschließen. Eine Risikoerhöhung an Lebererkrankungen, chronischen obstruktiven Lungenkrankheiten (nur bei Männern) und Kontaktdermatitis an speziellen Arbeitsplätzen spricht insgesamt dennoch für einen Effekt von Styrol und - Technologie bedingt - von Glasfaserstäuben. Mit einer zusätzlichen Auswertung betrieblicher Messprotokolle über die Luftkonzentration von Styrol in 5 Betrieben, die Polyesterharze verarbeiteten (u.a. Bootsbau, Säureschutzverkleidungen, Behälterbau, Herstellung von Fußböden), konnten z.T. erhebliche grenzwertüberschreitende Belastungen (über 85 mg/m³) nachgewiesen werden.
Früherfassung neurotoxischer Wirkungen des Styrols (F 5108)
Eine klinische Studie wurde zur Früherkennung von neurotoxischen Wirkungen des Lösungsmittels Styrol bei 29 Langzeitexponierten der Kunststoffverarbeitung mit neurologischer Untersuchung, elektrophysiologischer und leistungspsychologischer Diagnostik sowie Beschwerden-Fragebögen durchgeführt. Die Erfassung von subjektiven Beschwerden mittels Fragebögen (PNF I, PNF II und Q 16) auf ihre Aussagefähigkeit bei der Früherfassung von neurotoxischen Wirkungen und ihre Eignung für ein effektives Screening-Programm im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen stand dabei ebenso im Vordergrund wie die Frage nach der Nachweisbarkeit neurotoxisch erklärbarer adverser Effekte in der objektiven neuropsychologischen Diagnostik.
Von den Fragebögen haben sich PNF I/II deutlich unterhalb des gegenwärtigen Luftgrenzwerts von 85 mg Styrol/m³ als aussagefähig erwiesen. Fast alle Skalen, besonders jedoch die jeweilige Gesamtpunktzahl, reagierten signifikant auf eine Zunahme der Exposition über 45 mg Styrol/m³. Damit hat sich die Eignung dieser Fragebögen als Screeninginstrument zur Auswahl der Personen, die gesundheitlich kontrolliert oder einer hochspezialisierten psycho-neurologischen Untersuchung zugeführt werden müssen, vollauf bestätigt. Gleichzeitig gibt dieses Ergebnis den Hinweis auf neurotoxische Wirkungen unterhalb des gegenwärtigen Grenzwerts, was auch durch die neurophysiologischen und psychologischen Ergebnisse abgesichert wird.
Die multivariaten Analysen zeigten bezüglich der Quellen der Befindlichkeitsstörungen zweierlei. Einmal werden verschiedene neurophysiologisch erfassbare neurotoxische Wirkungen nicht in den Fragebögen widergespiegelt, andererseits geben die Fragebögen neurotoxische Effekte wieder, die keine neurophysiologischen oder leistungspsychologischen Korrelate aufweisen. Dies ist ein weiterer Hinweis auf die Vulnerabilität des Befindlichkeitsensembles, die den Erfolg dieser Fragebögen erst ermöglicht.
Die leistungspsychologischen Ergebnisse unterschieden sich deutlich von den häufig in der Fachliteratur angegebenen. Einfache Tests des Kurzzeitgedächtnisses und der Aufmerksamkeit, aber auch die einfachen und Wahlreaktionen erwiesen sich als weniger aussagefähig als die Flimmerverschmelzungsfrequenz und der LURIA-Lerntest, Verfahren, die hirnphysiologischen Funktionen nahe stehen.
Sowohl die Frequenzanalyse der Hirnströme als auch die Amplituden der visuell evozierten Hirnpotentiale (VEP) brachten unterhalb des gültigen Grenzwerts umfangreiche Ergebnisse in Richtung einer Erregbarkeitssteigerung subkortikaler Bereiche, die Beziehungen zu epileptoiden Funktionsstörungen aufwiesen.
Die elektroneurographischen Ergebnisse ergaben bevorzugt Leitfähigkeitssteigerungen im peripheren Nervensystem, ein Befund, der als initiale Phase einer phasischen peripher-neurotoxischen Wirkung mit früher Irritations- oder Toleranzphase und erst späterer paralytischer Phase interpretiert wurde.
Die elektromyographischen Ergebnisse zeigten ernstzunehmende Befundkorrelate zu einer initialen toxischen Polyneuropathie im Sinne einer axonalen Schädigung. Es ergaben sich Beziehungen zur Langzeitexposition mit möglichen passageren MAK-Überschreitungen, aber auch solche zu biomonitorischen Daten, die eine Exposition unterhalb der MAK signalisierten.
Unter den Expositionsbedingungen dieser Untersuchung erwies sich die auch im G 45 empfohlene Summe der Mandelsäure(MS)- und Phenylgloyoxylsäure(PGS)-Ausscheidung mit Kreatininbezug in Hinsicht auf die neurotoxischen Effekte als wenig aussagefähig. Die Beziehungen zu den Effektgrößen waren bei allen untersuchten Metaboliten ohne Kreatininbezug deutlicher. Bezüglich einer überdauernden Expositionswirkung am Nervensystem ergab die PGS-Ausscheidung der ersten 6 Arbeitsstunden den besten Zusammenhang.
Bibliografische Angaben
Titel: Gesundheitsgefährdung bei der industriellen Verarbeitung von Styrol. Querschnittsuntersuchung zu Gesundheitsrisiken durch Styrol (F 5047) / Früherfassung neurotoxischer Wirkungen des Styrols (F 5108)
1. Auflage.
Bremerhaven:
Wirtschaftsverlag NW Verlag für neue Wissenschaft GmbH, 2005.
(Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Forschungsbericht
, Fb 1060)
ISBN: 3-86509-400-7, Seiten: 204, Projektnummer: F 5047 / F 5108, Papier
vergriffen