Interview: Wissenschaft in der Pandemie

Uta Wegewitz und Marlen Melzer (BAuA) im Gespräch mit baua.de. Was hat Corona mit Stigmatisierung am Arbeitsplatz zu tun? Vor welchen besonderen Herausforderungen steht die Wissenschaft in Pandemiezeiten?

baua.de: Auf unserem Blog soll es um das Projekt "Stigmatisierung im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 in der Arbeitswelt: Zusammenfassung des Erkenntnisstandes und Interviewstudie" gehen. Was verbirgt sich hinter diesem etwas sperrigen Titel?

Uta Wegewitz: Stimmt, das klingt etwas sperrig. Der Titel beinhaltet das Thema und die Methoden: Es geht um Stigmatisierung in der Arbeitswelt. Dazu werden wir zum einen die aktuelle Literatur systematisch zusammenfassen, um den Erkenntnisstand darstellen zu können, und eine Interviewstudie vor Ort in der Praxis durchführen.

Forschungsexplosion in der Pandemie

baua.de: Und die "aktuelle Literatur" bedeutet wissenschaftliche Arbeiten zu dem Thema?

Uta Wegewitz: Genau. Alles, was bisher international und national publiziert worden ist.

baua.de: Ist denn damit zu rechnen, dass es zum Thema Stigmatisierung und Corona schon eine Menge gibt? Wir sind ja noch mitten in der Pandemie - das wäre doch ein bisschen überraschend, oder?

Uta Wegewitz: Tatsächlich explodiert die Anzahl der Arbeiten gerade nahezu. Jeder in der Forschung sieht die Notwendigkeit, zu diesem neuen Thema Daten zu generieren und Studien zu machen. Bei Fragestellungen, zu denen wir nichts finden, können wir außerdem auf Arbeiten zu vergangenen Pandemien zurückgreifen. Da gab es ja z. B. auch schon die erste SARS-Pandemie 2002/2003 - und auch hier kann man vergleichen und Rückschlüsse ziehen.

Stigmatisierung: "wir" und "die"

baua.de: Was hat man sich in diesem Zusammenhang konkret unter Stigmatisierung vorzustellen?

Uta Wegewitz: Das Wort Stigma kommt aus dem Griechischen und heißt "Wund-, Brand-, oder Stichmal". Stigmatisierung ist ein Prozess, bei dem Personen oder Personengruppen quasi "gebrandmarkt" werden: Ihnen werden bestimmte negative Merkmale zugeschrieben – auch ungerechtfertigt. Man trennt sich in Gruppen: einerseits die "Wir-Gruppe", die vermeintlich "normale". Auf der anderen Seite die "Anderen", die Gruppe der vermeintlichen Außenseiter. Das kann auch zur Folge haben, dass die Außenseitergruppe dann weiter ausgegrenzt wird.

baua.de: In dem Fall wären die Gesunden die "Wir-Gruppe", und die "Anderen" die Infizierten, richtig?

Uta Wegewitz: Das kann man hier tatsächlich nicht so sagen. Denn erstens: Was ist schon "gesund"? Und zweitens wird den "Anderen" etwas zugeschrieben: Sie sind eben vermeintlich infiziert oder erkrankt. Das muss ja gar nicht stimmen.

Gesundheitswesen - systemrelevant und stigmatisiert?

baua.de: Die Interviews dazu sollen, wie Sie sagten, in der Praxis stattfinden. Was heißt das konkret? Wer wird befragt?

Marlen Melzer: Die Interviewstudie wird im Gesundheitswesen durchgeführt, weil diese Branche in Pandemiezeiten als besonders systemrelevant gilt. Und weil dort vermutlich sowieso schon hohe körperliche und psychische Belastungen vorliegen. Durch die Pandemie dürfte sich das weiter verschärfen – zumindest in einigen Bereichen des Gesundheitswesens. Stigmatisierung hätte hier als zusätzliche Belastung nochmal einen verstärkt negativen Effekt. Deswegen befragen wir ärztliches und pflegerisches Personal zu ihren Stigmatiserungserfahrungen, dem eigenen Umgang damit und möglichen Präventionsansätzen.

baua.de: Da steckt also die Vorstellung dahinter, dass diese Menschen z. B. dadurch stigmatisiert werden, weil Andere vermuten, dass sie durch ihren Beruf ein höheres Corona-Ansteckungsrisiko haben?

Marlen Melzer: Ja, das ist so ein klassisches Beispiel: Bei Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern besteht die Gefahr, dass sie wegen ihres Berufs gemieden werden. Das kann auch deren Kinder, Ehepartner usw. betreffen.

Arbeitsschutz und Stigmatisierung

baua.de: Wir als BAuA sind ja auf Bundesebene für Forschung zum Arbeitsschutz zuständig. Worin besteht die Verbindung zwischen Arbeitsschutz und Stigmatisierung?

Marlen Melzer: Stigmatisierung ist in zweierlei Hinsicht ein Arbeitsschutzthema. Zum einen können durch Stigmatisierung negative Folgen im beruflichen Setting auftreten: Die Person ist weniger motiviert, zeigt vielleicht eine reduzierte Arbeitsleistung. Das fällt früher oder später auf, und dann sind die Arbeitsschutzverantwortlichen gefragt - also in erster Linie Arbeitgeber und Führungskräfte. Sie sollten das erkennen, ansprechen, Ursachen dafür in Erfahrung bringen und dann angemessen damit umgehen. Idealerweise im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung: Da sollten sowohl Risiken durch SARS-CoV-2 als auch durch psychosoziale Gefährdungen, die damit in Zusammenhang stehen können, erfasst werden. Zum anderen kann die Stigmatisierung auch zwischen Kolleginnen und Kollegen stattfinden. Das ist im Gesundheitswesen zwar nicht überall zu erwarten, weil dort häufig alle "in einem Boot sitzen" - es sind ja alle ähnlich exponiert. Trotzdem gibt es auch da Unterschiede: Jemand, der z. B. in einer Uniklinik in der Corona-Ambulanz tätig ist, hat ja ein anderes wahrgenommenes Übertragungsrisiko als jemand, der in der Pathologie arbeitet. Das kann zu Stigmatisierung innerhalb der Belegschaft führen.

Uta Wegewitz: Die BAuA erforscht Entwicklungen in der Arbeitswelt, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen und deren Gesundheit zu fördern, aber auch, um die handelnden Arbeitsschutzakteurinnen und -akteure und die Politik zu beraten. Zu Themen wie Stigmatisierung, die in der Arbeitswelt noch nicht so gut beleuchtet sind, müssen wir verlässliche Empfehlungen und Handlungshilfen bereitstellen. Die können Akteuren vor Ort Handlungssicherheit geben. Und natürlich ein ganz großes Thema: Sensibilisierung. Im Betrieb muss erstmal erkannt werden, wenn Stigmatisierungstendenzen vorliegen – und idealerweise gleich vorgebeugt werden.

baua.de: Das Hauptziel ist vermutlich, Beschäftigte vor den negativen Auswirkungen von Stigmatisierung zu schützen, oder?

Marlen Melzer: Genau. Ein erster Schritt wäre, dafür zu sorgen, dass Stigmatisierung gar keine Chance hat, aufzutreten. Da müsste man bei der Unternehmenskultur, beim Betriebsklima ansetzen: Wie kann ich für ein vertrauensvolles, angenehmes Miteinander in meiner Einrichtung oder meinem Betrieb sorgen? Dazu wissen wir aus der bisherigen Forschung schon viel. Aber wenn es um die Auswirkungen von Stigmatisierung geht - wenn das Kind quasi in den Brunnen gefallen ist - dann sind zusätzlich andere Maßnahmen erforderlich. Hierzu ist die Erkenntnislage aber bislang noch unbefriedigend. Unser Projekt soll einen Beitrag leisten, das zu ändern.

Wissenschaft in Hochdruckzeiten

baua.de: Die BAuA veröffentlicht Ergebnisse ja meistens in Form von Broschüren oder wissenschaftlichen Arbeiten. Was ist die Überlegung dahinter, dass wir für dieses Projekt zusätzlich einen Blog machen?

Uta Wegewitz: Wir möchten auf dem Blog nicht nur Forschungsergebnisse mit der Öffentlichkeit teilen, sondern auch berichten, wie wir forschen. Und wir möchten auch andere Leute zu Wort kommen lassen - zum Beispiel Betroffene. Hier können wir, wenn uns im Projektverlauf neue Aspekte des Themas auffallen, auch dazu berichten.

Marlen Melzer: So eine Pandemiesituation ist ja für uns alle ein neues Phänomen. In dieser Situation können wir auf dem Blog zeigen: Wie funktioniert Wissenschaft in einer Pandemie? Wie komme ich an meine Stichprobe? Wie kann ich ursprünglich "im Feld" geplante Untersuchungen, also z. B. Befragungen vor Ort in Betrieben, auf anderen Wegen durchführen? Wie kann ich Personen, die aufgrund der Pandemie wahrscheinlich schon mehr arbeiten müssen als sonst, für die Teilnahme an einer Studie gewinnen? Ist das ethisch überhaupt vertretbar? Ein Blog hat den Vorteil, dass wir "Work in Progress" darstellen, also Einblicke in die laufende Arbeit geben können. Das gibt uns die Chance, einmal den Forschungsprozess mit seinen Unwägbarkeiten in den Fokus zu rücken. So können wir zeigen: Wissenschaft liefert nicht immer nur Antworten, sondern wirft auch neue Fragen auf - und das ist wichtig.

baua.de: Ist es ein Problem, dass Wissenschaft teilweise etwas länger braucht und ein bisschen behäbig dabei ist, neue Impulse einzufangen?

Uta Wegewitz: Bei der Behäbigkeit würde ich widersprechen. Das ist zumindest nicht unsere Innensicht. Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lassen eben den Forschungsprozess bis zum Ende durchlaufen. Erst dann stellen wir die – mehr oder weniger - abgesicherten Ergebnisse bereit. Forschung ist ein komplizierter und dynamischer Prozess: Viele Menschen schauen auf die Zwischenschritte, es wird viel kritisch hinterfragt und nachgebessert. Das gehört zu seriöser Forschung einfach dazu. Ich würde die Wissenschaft daher nicht als behäbig bezeichnen, sondern als zurecht gründlich. Zusätzlich müssen - gerade bei Feldforschung - auch Themen wie Datenschutz und ethische Aspekte bedacht werden. Das braucht auch seine Zeit.

Marlen Melzer: Und mit so einem Blog können wir verdeutlichen: Wissenschaft ist nun mal ein schrittweiser Prozess, bei dem man sich auch mal irren kann und andere Wege beschreiten muss. Dadurch kann Wissenschaft nicht immer sofort die richtigen Antworten haben.

baua.de: Ist das auch ein spezifisches Problem in der Corona-Krise, dass jetzt viel mehr Menschen auf wissenschaftliche Ergebnisse schauen und bemerken: Die widersprechen sich teilweise, es dauert, Äußerungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben direkt Auswirkungen auf meinen Alltag als Bürger? Ist die Forschung dadurch gerade unter dem Brennglas?

Marlen Melzer: Ja, ich denke, das hat viel mit persönlicher Betroffenheit zu tun. Die gesamte Gesellschaft hat ein Interesse an Antworten zu Corona, weil sie direkte Konsequenzen für das Handeln haben: Regelungen und Verordnungen, die alle betreffen.

Uta Wegewitz: Und das kann sowohl positiv als auch negativ sein. Als positiv empfinde ich, dass die Wissenschaft wieder mehr in die Öffentlichkeit tritt und dass zunehmend verstanden wird, wie Wissenschaft funktioniert. Schwierig dagegen ist es, wenn wir uns unter akuten Zeitdruck setzen - oder wenn die Erwartung besteht, dass Wissenschaft eine richtige Antwort hat. Deshalb ist es wichtig, klarzumachen: Wir schaffen die Grundlagen. Nicht mehr und nicht weniger. Die Aufgabe von Politik und Arbeitsschutzakteuren ist dann, damit zu arbeiten.

Wissen für die Praxis

baua.de: Stichwort Ergebnisse: Worauf kommt es an, um Stigmatisierung am Arbeitsplatz in dieser Pandemie zu vermeiden?

Marlen Melzer: Führungskräfte und Beschäftigte müssen Stigmatisierung und ihre Folgen überhaupt erstmal kennen. Und Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger müssen Maßnahmen zur Vorbeugung und zum Umgang mit Stigmatisierung an die Hand bekommen. Wir sprechen hier von "Gestaltungswissen". Dazu gehört auch Wissen zur konkreten Umsetzung dieser Maßnahmen. Neue Maßnahmen bringen ja immer einen betrieblichen Veränderungsprozess mit sich, der gründlich geplant werden muss. Wenn man hier nachlässig ist, werden auch sehr gute Maßnahmen am Ende oft nicht erfolgreich umgesetzt. Welche Maßnahmen konkret für den Umgang mit Stigmatisierung in Frage kommen, können wir natürlich erst nach Abschluss unseres Projekts sagen. Aber das Betriebsklima spielt vermutlich eine wichtige Rolle. Zu empfehlen wäre demnach ein Klima der Toleranz, Akzeptanz, Fürsorge und Wertschätzung. Darüber hinaus wollen wir Erkenntnisse zu weiteren hilfreichen Maßnahmen gewinnen. Insbesondere zu den sogenannten "verhältnisbezogenen Maßnahmen" – also denen, die auf eine Veränderung der Arbeitsbedingungen zielen - fehlen uns bislang belastbare Erkenntnisse. Das wollen wir im Projekt ändern.

Zitiervorschlag

Wegewitz, Uta und Melzer, Marlen, 2021. Interview: Wissenschaft in der Pandemie. In: Corona und Stigmatisierung [online]. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Verfügbar unter: https://www.baua.de/DE/Forschung/Projektblogs/Covid-Stigma-Blog/Artikel/00-IV-Corona-Stigmatisierung-Wissenschaft.html