Art der Gefährdungen und deren Wirkungen
Im Sinne des Arbeitsschutzes ist dann von einer Gefährdung für die Gesundheit der Beschäftigten auszugehen, wenn die Arbeit so organisiert ist, dass Arbeitsaufgaben in der dafür vorgesehenen Zeit und der erwarteten Qualität nur mit einem stark erhöhten Aufwand erledigt werden können. Daher gilt es bei der Arbeitsorganisation insbesondere zu vermeiden, dass:
- die zur Verfügung stehende Zeit für die zu bewältigende Menge an Arbeitsaufgaben zu gering bemessen ist bzw.
- die zu leistende Arbeitsmenge für die zur Verfügung stehende Bearbeitungszeit zu hoch bemessen ist,
- die zur Verfügung stehende Zeit für die Schwierigkeit/Komplexität der zu bewältigenden Arbeitsaufgaben zu gering bemessen ist bzw.
- die Schwierigkeit/Komplexität der zu bewältigenden Arbeitsaufgaben für die zur Verfügung stehende Bearbeitungszeit zu hoch ist,
- Arbeitsabläufe häufig und/oder langandauernd unterbrochen und gestört werden,
- die Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten für Aufgaben, für deren Erledigung Abstimmung notwendig ist, räumlich, zeitlich und ablauforganisatorisch so gestaltet sind, dass die notwendige Abstimmung andauernd stark behindert wird,
- Erwartungen von Vorgesetzten und Kollegen/-innen an die Rolle des Beschäftigten unklar und/oder widersprüchlich sind (Rollenunklarheit),
- Arbeitshandlungen zeitlich zu eng getaktet sind und hauptsächlich kurze, sich häufig wiederholende, gleichförmige Tätigkeiten umfassen.
Eine zentrale Rolle für die Vermeidung von Gefährdungen durch die Arbeitsorganisation spielt das Verhältnis aus der für die Erledigung der Arbeitsaufgaben zur Verfügung stehenden Zeit und der in dieser Zeit zu erledigenden Menge an Arbeitsaufgaben bzw. ihrer Schwierigkeit/Komplexität (Beispielsweise berichteten Kundenberater einer Arbeitsagentur, dass sich die Schwierigkeit bzw. Komplexität der durch sie zu führenden persönlichen Beratung erhöht hat, nachdem Onlineangebote für Routineangelegenheiten eingeführt wurden. Dies erklärt sich daraus, dass die persönliche Beratung nun vermehrt Kunden in Anspruch nehmen, die kompliziertere Beratungsanliegen mitbringen, während Kunden mit Routineangelegenheiten die Onlineangebote nutzen. Auch das ist eine Form der Intensivierung der Arbeit, nicht bedingt durch die Menge von Beratungsgesprächen an sich, sondern durch die gestiegene Schwierigkeit der Beratungsgespräche [bezogen auf die zur Verfügung stehende Zeit, die entsprechend anzupassen ist, um zu eng bemessene Erledigungszeiträume zu vermeiden]). Dieses wird in der arbeitswissenschaftlichen Literatur als Arbeitsintensität bezeichnet (vgl. STAB, JAHN & SCHULZ-DADACZYNSKI, 2016). Die im BAuA-Projekt "Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt" recherchierten Studien belegen die Gesundheitsrelevanz einer zu hohen Arbeitsintensität (BAUA, 2017; STAB et al., 2016). Hierbei wurden insbesondere gesundheitliche Auswirkungen einer zu hohen Arbeitsmenge, also hoher quantitativer Anforderungen (bezogen auf die zur Verfügung stehende Zeit), untersucht und belegt. Je höher die Arbeitsintensität, desto häufiger treten Einschränkungen mentaler Gesundheit (z. B. Burnout und Depression), psychosomatische Beschwerden und Muskel-Skelett-Erkrankungen auf. Weiterhin, wenngleich seltener, wurde untersucht, wie sich zu eng bemessene Erledigungszeiträume für Aufgaben mit hoher Schwierigkeit bzw. Komplexität, also hohen qualitativen Anforderungen, auf die Gesundheit, das Befinden und/oder die Leistung auswirken. Diese Studien zeigten, dass zu hohe qualitative Anforderungen (bezogen auf die zur Verfügung stehende Zeit) mit eingeschränkter mentaler Gesundheit (z. B. Frustration, Burnout, emotionaler Erschöpfung) und psychosomatischen Beschwerden einhergehen.
Neben diesem zentralen Aspekt der Arbeitsorganisation gibt es eine Reihe weiterer Arbeitsbedingungen, die einen erhöhten Arbeitsaufwand mit sich bringen. Hervorzuheben sind hier zunächst häufige bzw. länger andauernde Unterbrechungen und Störungen der Arbeitstätigkeit. Arbeitsunterbrechungen sind in der Regel mit einer zusätzlichen Aufgabe verbunden. Der Beschäftigte wird abgelenkt und muss entscheiden, ob er diese zusätzliche Aufgabe sofort oder verzögert bearbeitet, sie ignoriert oder delegiert. Dann muss er zur Erledigung seiner eigentlichen Arbeitsaufgabe zurückkehren (z. B. Telefonanrufe von Kunden während der konzentrierten Bearbeitung eines Versicherungsfalles). Dies kostet Zeit und mentale Ressourcen und erhöht somit den Aufwand zur Erledigung der Arbeitsaufgabe. Störungen beeinträchtigen und/oder unterbrechen ebenfalls den Handlungsfluss und erhöhen so den Arbeitsaufwand, sind aber nicht zwingend mit einer zusätzlichen Aufgabe verbunden (wie zum Beispiel Baulärm oder parallele Telefongespräche von Kollegen in einem Großraumbüro; vgl. RIGOTTI, 2016). Die Bedeutung von Unterbrechungen und Störungen der Arbeit als Stressor wurde in den Studien, die im Kontext des BAuA-Projektes "Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt" systematisch ausgewertet wurden, belegt (BAUA, 2017; RIGOTTI, 2016). So zeigten sich positive Zusammenhänge zwischen Arbeitsunterbrechungen und einer ganzen Reihe von gesundheitlichen Auswirkungen, d. h., je häufiger (und nachhaltiger) Beschäftigte bei der Ausführung ihrer Hauptaufgabe unterbrochen wurden, desto häufiger berichteten sie beispielsweise Befindensbeeinträchtigungen, Symptome von Burnout, psychosomatische und körperliche Beschwerden. Außerdem gehen Unterbrechungen und Störungen mit Leistungsminderungen, erhöhter Fehleranfälligkeit (insbesondere nachgewiesen im Kontext von Medikationsfehlern im medizinischen Bereich) und erhöhtem Unfallrisiko (durch Beeinträchtigungen sicherheitsrelevanten Verhaltens) einher. Unterbrechungen und Störungen wirken in Abhängigkeit von den Anforderungen der Arbeitsaufgabe unterschiedlich. Werden z. B. Beschäftigte bei der Erledigung von Aufgaben mit hohen Gedächtnisanforderungen und/oder einer hohen Komplexität unterbrochen, wird die Leistung stärker gemindert als bei geistig weniger anspruchsvollen Aufgaben.
Um es Beschäftigten zu ermöglichen, die Arbeitsaufgaben in der zur Verfügung stehenden Zeit mit einem angemessenen Aufwand erledigen zu können, müssen Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten entsprechend gestaltet werden. Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten sind eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines (arbeitsbezogenen) sozialen Austauschs. In Unterkapitel 9.3 wird ausführlicher auf die Gesundheitsrelevanz und die Gestaltung sozialer Beziehungen bei der Arbeit eingegangen. Hier an dieser Stelle geht es um die Gestaltung von Rahmenbedingungen für die Kommunikation und Kooperation. Dazu sind schon bei der Gestaltung der Arbeitsaufgabe die Kooperationserfordernisse, die die Aufgabe an den Beschäftigten stellen, zu bedenken, d. h. die Frage danach, mit wem sich der Beschäftigte zu welchem Zweck und zu welchen Inhalten abstimmen muss, um seine Aufgabe in der erwarteten Qualität zu erledigen. Von einer Gefährdung ist auszugehen, wenn die zeitlichen, räumlichen und ablauforganisatorischen Rahmenbedingungen für die notwendige Kommunikation und Kooperation so gestaltet sind, dass Abstimmungen nur mit einem stark erhöhten Mehraufwand erfolgen können.