Grundlegende Empfehlungen zur Organisation und Umsetzung
Vorliegende Studien verdeutlichen Probleme und Herausforderungen im Umgang mit psychischer Belastung, zeigen aber auch Möglichkeiten, diesen Herausforderungen praktisch zu begegnen (BECK & SCHULLER, 2020; LENHARDT, 2017; JANETZKE & ERTEL, 2017; BAUA, 2014; LANGHOFF & SATZER, 2010). Daraus lassen sich die folgenden vier grundlegenden Empfehlungen zur Organisation des Umgangs mit psychischer Belastung ableiten.
Empfehlung 1: Beteiligungs- und verständigungsorientierte Prozesse und Verfahren
Für viele relevante psychosoziale Risiken (beispielsweise destruktive Führung, zu hohe Arbeitsintensität) ist ein Soll-Ist-Abgleich auf Grundlage allgemeinverbindlicher Messstandards und Schutzvorgaben nicht möglich (JESPERSEN et al. 2017). Vielmehr ist es erforderlich, im Betrieb eine Verständigung über Gefährdungen durch psychische Belastung und Möglichkeiten ihrer Vermeidung zu erzielen, an der die betrieblichen Sozialpartner, Expertinnen und Experten, aber auch die direkt betroffenen Beschäftigten und Führungskräfte aktiv beteiligt sind (JANETZKE & ERTEL, 2017; LANGHOFF & SATZER, 2010). Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung wird daher in der Regel ein Prozess sein, in dem verschiedene und zum Teil konfligierende Problemsichten und Interessen eingebracht und verhandelt werden (BECK, 2019). Arbeitsschutzfachleute sind dabei nicht nur als Organisatoren und Moderatoren der innerbetrieblichen Verständigung gefragt, sondern vor allem auch als fachlich versierte Interessenvertreter des Gesundheitsschutzes, die die spezifischen Problemsichten und Erwartungen des Arbeitsschutzes einbringen.
Empfehlung 2: Präventions- und gestaltungsorientierte Prozesse und Verfahren
Im Mittelpunkt der Gefährdungsbeurteilung sollte die Frage stehen, was im Betrieb bereits getan wird und weitergehend unternommen werden muss, um das Auftreten kritischer Belastungsausprägungen (beispielsweise überlange Arbeitszeiten, destruktives Führungsverhalten, Arbeiten unter Zeit- und Leistungsdruck, emotionale Dissonanz) so weit als möglich zu vermeiden. Für die Wahl von Instrumenten und Verfahren der Gefährdungsbeurteilung ausschlaggebend sollte sein, ob und inwiefern sie einen solchen Verständigungs- und Gestaltungsprozess ermöglichen und unterstützen (SCHULLER et al., 2018). Um die gefährdungsvermeidende Arbeitsgestaltung stärker ins Zentrum des Gefährdungsbeurteilungsprozesses zu rücken, braucht es zudem eine Verschiebung des Fokus von "psychischer Belastung als Mess- und Beurteilungsproblem" hin zur "Gestaltung psychischer Belastung" (SCHULLER, 2019).
Empfehlung 3: Führungskräfte und Beschäftigte als primäre Gestaltungsakteure einbinden
Arbeitsschutzexpertinnen und -experten wie beispielsweise Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärzte können Impulse für Maßnahmen geben. Sie haben in der Regel jedoch keine Zuständigkeiten, um über Maßnahmen gefährdungsvermeidender Arbeitsgestaltung zu entscheiden und/oder diese umzusetzen, zumal dabei vielfach auch Konflikte mit anderen personal- oder leistungspolitischen Gestaltungszielen zu lösen sind (BECK, 2019; LENHARDT, 2017). Von großer Bedeutung ist es daher, Führungskräfte und Beschäftigte als primäre Gestaltungsakteure in die Gefährdungsbeurteilung einzubinden (JANETZKE & ERTEL, 2017). Arbeitgeber sollten dafür Spielräume und Anreize schaffen sowie Kompetenzen von Führungskräften und Beschäftigten stärken, Entscheidungen über die Organisation und Gestaltung der Arbeit im Interesse des Gesundheitsschutzes zu fällen (→ Kapitel 1.7). Dazu gehören entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen, aber auch ausreichende Entscheidungsspielräume, zeitliche Ressourcen sowie geeignete Instrumente und fachlich fundierte Unterstützung durch Expertinnen und Experten.
Empfehlung 4: Aktive Gefährdungsvermeidung in allen Gestaltungskontexten fördern
Im Interesse des Gesundheitsschutzes gilt es, Anstrengungen zur Gefährdungsvermeidung in allen Kontexten systematisch und zielgerichtet zu befördern, in denen Arbeit (tagtäglich) beurteilt und gestaltet wird. Denn zielgerichtete Maßnahmen zur Reduzierung psychosozialer Risiken sind im Betrieb in ganz unterschiedlichen Kontexten nötig und möglich, in der Arbeitszeit- und Leistungspolitik ebenso wie in der Personalplanung oder der Qualifizierung, als Aufgabe fürsorglicher Mitarbeiterführung ebenso wie als Bestandteil professioneller Berufsausübung (BECK et al., 2017).