59. Wissenschaftliches Seminar, 8. Februar 2022

Vortrag von

  • Frau Dr. Linda Nierling, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Lange Zeit galt und gehörte es zum Selbstverständnis der Technikfolgenabschätzung (TA), dass der ureigene Auftrag die Erarbeitung "neutraler" Expertisen sei, um die politische Entscheidungsfindung bestmöglich zu unterstützen. Diese Perspektive hat sich seit einiger Zeit verschoben und die Auseinandersetzung mit normativen Aspekten der TA hat eine große Resonanz erfahren, in denen sowohl die Selbstreflexion der TA als hybrider Praxis zwischen Wissenschaft und Politikberatung, aber auch konkrete Forschungsmethoden sowie forschungsleitende Grundfragen reflektiert werden. Der Bezug auf entsprechende normative Fragen des eigenen Selbstverständnisses hat sicher auch damit zu tun, dass an die TA - gerade auch durch prominente EU-geförderte Forschungsprogramme mit einer starken Orientierung auf Werte und Zivilgesellschaft, wie Responsible Research and Innovation (RRI) - Fragen der eigenen Positionierung herangetragen wurden (van Lente et al. 2017, Fisher 2017).

Das Thema der Normativität in der TA ist also - gerade auch vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen - aktuell und umfasst ein breites Spektrum an Facetten. In diesem Beitrag soll anhand aktueller Auseinandersetzungen in der Community (Nierling, Hennen, Torgersen 2021) der Komplex der Normativität in der TA anhand zweier Ebenen ausgeleuchtet werden, die je unterschiedliche Anforderungen an den Umgang mit normativen Elementen in der TA stellen.

Zum ersten betrifft dies die Rolle von TA als Instrument der Politik- bzw. Gesellschaftsberatung. Hierbei war das Neutralitätsgebot wesentlich in der historischen Entwicklung der parlamentarischen TA. In den einzelnen TA-Institutionen wurde und wird dies aber - vor allem auch in der aktuellen Praxis je nach nationalem und institutionellem Setting - unterschiedlich gestaltet (Nentwich 2016). Der Ruf nach und erste Ansätze für eine konzeptionelle Adressierung dieser Veränderung des Neutralitätsgebot, etwa durch das Konzept der "reflexive Normativität", d.h. das Aufdecken und das Bewusstmachen inhärenter normativer Bezüge in der TA, liegen vor.
Eine zweite Ebene - und das ist nicht TA-spezifisch, sondern gilt auch für andere Formen der problemorientierten Forschung - ist der Umgang mit normativen Setzungen im Forschungsprozess. Hier zeigt sich, dass diese zum einen am Anfang eines Forschungsprozesses auftreten können und dabei durchaus einen Mehrwert dergestalt haben können, den Forschungsprozess in eine bestimmte Richtung zu lenken, um gerade auch wenig dominante individuelle, Aspekte zu integrieren. Zum anderen können diese im Forschungsprozess selbst ansetzen z. B. durch spezielle Verfahren Werthaltungen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern in partizipativen Prozessen transparent zu machen und so normative Einstellungen bewusst für eine diskursive Vielfalt zu nutzen. Die zwei genannten Fälle sind hier zwar exemplarisch zu verstehen, zeigen aber, dass das retrospektive Ausleuchten aber auch der prospektive Umgang mit Normativität erkenntnisreich für die Gestaltung von Forschungsprozessen sein kann.

Das Bewusstmachen entsprechender normativer Setzungen auf Ebene der Disziplin, aber auch die Erarbeitung von pragmatischen Verfahren des Umgangs mit diesen reflexiven Herausforderungen im Forschungsprozess bleibt eine künftige Aufgabe für konzeptionelle, aber auch methodische Fragen nicht nur der TA, sondern auch anderen Feldern der problemorientieren Forschung an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.

Literatur:
Fisher, E. (2017). Entangled futures and responsibilities in technology assessment. Journal of Responsible Innovation, 4(2), 83-84. doi:10.1080/23299460.2017.1372061
Nentwich, M. (2016). Parliamentary Technology Assessment Institutions and Practices. A Systematic Comparison of 15 Members of the EPTA Network. doi:10.1553/ITA-ms-16-02
Nierling, L., Hennen, L., Torgersen, H. (2021): Normativität in der TA. In: Böschen, S. et al. (Hg.): Technikfolgenabschätzung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden, S. 240-252.
van Lente, H., Swierstra, T., & Joly, P.-B. (2017). Responsible innovation as a critique of technology assessment. Journal of Responsible Innovation, 4(2), 254–261.

Kontakt

PD Dr. Anne Marit Wöhrmann

Wissenschaftliche Leiterin
Fachbereich 3 "Arbeit und Gesundheit"

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